Gedanken

Essay: Wish Fulfillment vs Escapism in Fiction

Escapism_by_raunOder auch: Welchen Zweck erfüllen selbsterschaffene, fiktionale Charaktere im Hinblick auf das Selbstbild des Autoren?
(Achtung, lang und pseudowissenschaftlich.)

Einleitung
Wie viel vom Autor selbst steckt eigentlich in den von ihm erfundenen Charakteren? – Dies ist eine Frage, die im Bezug auf Literatur immer wieder gestellt wird. Gerade in Zeiten, in denen Erotikromane für Frauen ihren großen Aufschwung erleben, herrscht unter Lesern häufig eine gewisse Skepsis, was die Verbindung des Autors mit seinen Protagnisten angeht. Ist es nicht eigentlich die Autorin, die auf BDSM steht und in dem Buch ihre Erfahrungen und Vorlieben verarbeitet? Dient der Protagonist in Buch X nicht einfach nur als Surrogate des Autoren, um dessen schwierige Beziehung zu seiner Mutter zu verarbeiten? Hat die Autorin von Buch Y nicht einfach nur eine idealisierte Version von sich selbst in die Handlung gesetzt, um ihr kleines Ego und ihre fehlerbehaftete Persönlichkeit  im realen Leben zu kompensieren?

Es ist bereits viel und häufig über die Identifikation von Lesern mit fiktionalen Charakteren geschrieben worden. Wie es allerdings mit dem Verhältnis des Erschaffers zu seinen Protagonisten aussieht, ist zu einem großen Teil für Außenstehende recht schwer einzuschätzen, da die tatsächlichen, konkreten Motive des Urhebers (sofern er sich nicht in Form von Interviews oder ähnlichem selbst erklärt) häufig im Dunkeln liegen. Ich möchte allerdings in meinem Text auf zwei wichtige Konzepte der Identifikationstheorie im Zusammenhang mit Fiktion eingehen, die sich sowohl auf die Leser- als auch auf die Autoren-Seite anwenden lassen.

Wish Fulfillment – oder: Katharsis als Ziel und Zweck
In seinem Werk „Die Traumdeutung“ hat Sigmund Freud über den Sinn und Zweck von Träumen, beziehungsweise den Zusammenhang zwischen Traum und persönlicher Lebensgeschichte geschrieben. Demnach erfüllen glee_self_insert_by_themusessong-d3caz48Träume den Zweck einer sogenannten „Wunscherfüllung“ – ein unterbewusster Vorgang, der es einer Person ermöglicht, unverarbeitete und im Wachzustand vielleicht nicht erreichbare Erlebnisse, Hoffnungen, Wünsche und Ziele zu erleben, auszuleben und zu verarbeiten.
Wenn man davon ausgeht, dass Fiktion für den Autor dasselbe Ventil darstellt wie für den Träumer der Traum, dann zeichnet sich folgendes Bild: Die fiktive Welt wird zum Schauplatz der persönlichen Konflikte des Autors, zur Spielwiese für unerfüllte Wünsche. Der fiktive Charakter ist demnach ein Abbild des Autors, welches nur dazu dient, diejenigen Handlungen auszuführen, Entscheidungen zu treffen und Dinge zu erleben, die der Verfasser selbst in der realen Welt nicht in der Lage (gewesen) ist zu tun.
Ich spreche der Theorie nicht ab, dass es nicht Tatsache ist, dass vermutlich in jedem einzelnen gut ausgearbeiteten Charakter ein Fünkchen seines Erschaffers steckt. Ich halte es allerdings für ausgesprochen problematisch, einen Charakter lediglich auf eine Art kathartische Funktion hin zu reduzieren, denn dies würde bedeuten, dass dieser Charakter außerhalb seiner Bedeutung für den Autor schlichtweg keine Existenzberechtigung hat. Ist es nicht auch möglich, einen Protagonisten einfach zu erschaffen, weil man ihn erschaffen möchte? Aus Freude am Spinnen einer Geschichte? Womit wir bei der zweiten Theorie wären…

Escapism – oder: Loslösung von der Realität
In dem Wort steckt das englische Verb „to escape“, welches man sowohl mit „flüchten“, als auch mit „ausbrechen“ übersetzen kann. In unserer Gesellschaft ist der Begriff „Realitätsflucht“ überwiegend negativ belegt, da er suggeriert, dass jemand aus gewissen Gründen nicht in der Lage ist, sich seiner Lebenswirklichkeit zu stellen und sich daher in Fantasiewelten zurückzieht. Allerdings ist auch die moderne Psychologie mittlerweile soweit zu erkennen, dass das gelegentliche Zurückziehen in das innere Selbst nicht nur natürlich, sondern unter gewissen Umständen sogar gesund ist. Es ist nichts Falsches daran, sich einen Zufluchtsort zu suchen, der von der äußeren Welt unangetastet bleibt, etwa, indem man für eine Stunde in ein Buch eintaucht und dabei seine eigenen Sorgen hinter sich lässt. Im Zusammenhang mit dem Schreiben hat es der Autor Neil Gaimain folgendermaßen zusammengefasst:

“People talk about escapism as if it’s a bad thing… Once you’ve escaped, once you come back, the world is not the same as when you left it. You come back to it with skills, weapons, knowledge you didn’t have before. Then you are better equipped to deal with your current reality.” – Neil Gaiman

Übertragen auf das Character-Building bedeutet das also: Der Autor erschafft einen Charakter nicht als Abbild seiner selbst, um seine Lebenswirklichkeit zu verarbeiten. Er erschafft ihn als Teil einer Geschichte, die er erzählen möchte. Vielleicht aus tiefgründigen Motiven, vielleicht aber auch nur, weil es ihm Spaß macht, ein fremdes, erdachtes Schicksal zu begleiten und so Charakterzüge, Handlungswege und Meinungen zu erkunden, die mit ihm selbst nichts gemein haben.

sdcc___year_of_the_writer_by_jdillon82-d2y2t23Character-Building – oder: Wie nahe steht ihr euch?
Wie ich bereits schrieb: Es ist bisweilen nicht einfach, als außenstehender Leser zu beurteilen, mit welcher Intention ein Autor seinen Charakter erschafft. Doch ist die Frage danach überhaupt relevant? Ändert es etwas am Lesevergnügen? Und doch scheint es bisweilen großen Klärungsbedarf zu geben, wann immer ich eine der Fragen höre oder lese, die ich in der Einleitung frei zitiert habe. Daraus spricht ein gewisses Misstrauen, eine Wertung, die zumeist nicht positiv konnotiert ist.

Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung als Hobby-Autor sagen: Nicht hinter jedem Baum lauert ein Räuber und nicht hinter jedem fiktiven Charakter steckt ein tiefliegender Konflikt des Autors. Das wäre in meinem Fall auch fatal: Ich besitze bestimmt über 50 erdachte Charaktere und das einzige von meiner Persönlichkeit, was in jedem von ihnen drinsteckt, ist der Spaß, den ich am Erschaffen dieses Charakters hatte. Sie sind Idioten, Mörder, Feiglinge, Ärzte, nette Jungs von nebenan, Arschlöcher, Abenteurer und Zicken. Sie handeln zu 90% nicht, wie ich handeln (wollen) würde, sondern so, wie es ihrem festgelegten Charakter entspricht – das ist die Herausforderung daran.
Wie nahe stehe ich also meinen Charakteren? Sehr nahe. Aber nicht, weil ich mich selbst in ihnen sehe, sondern weil ich mich im Zuge ihrer Erschaffung intensiv mit ihnen befasst, sie „kennengelernt“ habe. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, ich hätte Muttergefühle für sie – es ist eine Mischung aus dem Stolz, den man empfindet, wenn man etwas geschaffen hat, und einer gewissen Vertrautheit. Dabei habe ich mich auch schon häufig mit Charakterzügen auseinandergesetzt, die ich an Menschen im richtigen Leben schrecklich finde, mit mir unbekannten Ethnien, oder ich habe einfach wild irgendwelche Eigenschaften zusammengeworfen und dann geschaut, was passiert.
Warum tue ich das? Es bereitet mir Freude. Es ist eine Herausforderung. Und ich brauche keine hintergründigen Motive, um einen Charakter zum Leben zu erwecken.
Ich denke, das geht vielen Autoren so, wenn nicht sogar den meisten. Und was man ebenfalls nicht vergessen darf: Egal, ob ein Autor (professionell, Hobbyschreiber, Fanfictionschreiber, etc.) sein Werk zur eigenen Erlebnisverarbeitung oder aus Freude an fremden Welten schreibt, er teilt es mit anderen. Um anderen damit eine Freude zu machen, sie passiv einzubinden, ihre Reaktionen zu erfahren. Er möchte also Feedback zu dem, was er geschaffen hat – keine Rückschlüsse und Spekulationen auf sein Seelenleben.

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2 Comments

  • GongShi 27. Oktober 2013 at 18:21

    In jeder „Charakter-Erstellung“ finden sich Teile des Autors wieder. Die zugehörige fiktive Person agiert in der Erfahrungs- und Vorstellungswelt des Autors oder dem Set der Personen, die den Autor beeinflussen oder vom Autor beobachtet werden können (nachfolgend „Lebenskontext“ genannt). Aus dem „Lebenskontext“ erwachsen die in der Geschichte angelegten fiktiven Lebenskontexte und Handlungsmöglichkeiten.

    Mit anderen Worten: Der Autor ist verdammt dazu das in seinen Werken widerzuspiegeln, zu be- oder verarbeiten was in seinem Leben passiert (ist) und er kraft seiner Vernunft „erreichen“ kann.

    (1) Dies, weil seiner Wahrnehmung und Vernunft aus dem Universum der Möglichkeiten nur eine (wohl äußerst geringe) Teilmenge zugänglich ist. (2) Weil seine Identität die Nicht-Identität mit anderen Personen bedingt, folgt daraus, dass diese Teilmenge niemals echte Teilmenge einer anderen Person sein kann (außer, man glaubt, dass etwas Omniszienz hat). (3) (a) Das Denkbare ist begrenzt durch diese Teilmenge und der Schlüsse aus dieser Teilmenge. (b) Kann oder will die Person nicht „schlussfolgern“ (Ausschluss von „axiomatischem“ Determinismus), so wird ihre Kreativität (scheinbar willkürliche Wahl neuer Axiome) vom in seinem Leben erworbenen semantischen Schatz (etwa, Menge der bekannten oder erzeugbaren Worte) begrenzt. (=) Das Denk- und Verhaltensrepertoire des Menschen ist also begrenzt. (4) Aus dem Universum aller möglichen Geschichten (und Kombinationen von Eigenschaften zu Charakteren) wählt der Autor also nur einen (wohl äußerst kleinen) Teil aus. Diese Auswahl erfolgt nie willkürlich. (Den Beweis überlasse ich als Übung dem Leser ;-).

  • GongShi 27. Oktober 2013 at 18:25

    Ich habe oben in „[Was] er kraft seiner Vernunft »erreichen« kann“ auch „Phantasie“ subsumiert. In dem Satz ist das letzte ‚und‘ durch ein ‚und/oder‘ zu ersetzen. ^^#

    Was hier noch nicht gesagt worden ist, ist, dass das Erschaffen eines Werkes (ungeachtet meiner obigen Argumentation) den Autor wiederum selbst beeinflusst.

    Siehen auch:
    http://en.wikipedia.org/wiki/Proteus_effect — Proteus Effekt
    The Art of Influence, von Chris Widener; (2008) Crown Business

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