Gedanken

Dyskalkulie – Was ist das?

dyskalkulieNachdem ich dieses Interview auf Spiegel Online gelesen habe, in dem ein angeblicher Experte für Mathematikdidaktik die Existenz von Dyskalkulie, Analphabetismus und ADHS beseite gewischt und uns alle endlich mal aufgeklärt hat (Ironie!), fühle ich mich gedrängt, ein paar Zeilen dazu zu schreiben. Vor allem aus dem Grund, weil ich es immer wieder traurig, wenn sich Nicht-Betroffene auf eine hohe Warte setzen und aus ihrer Blickweise heraus meinen beurteilen zu können, wie es sich mit dieser oder jener Erkrankung oder Schwäche verhält. Das schafft Vorurteile und trägt bei weitem nicht dazu bei, dass sich irgendetwas am Zustand der betroffenen Personen ändert – außer, dass sie irgendwann wirklich beginnen zu glauben, dass sie irgendwie geisteskrank sind.

Ich selber bin kein Wissenschaftler, kein Experte und auch kein Mediziner. Ich habe jahrelang in verschiedenen Nachhilfeinstituten gearbeitet, die eine oder andere Vorlesung zur Didaktik besucht und bin seit 26 Lebensjahren persönlich von Dyskalkulie betroffen. Was ist das nun also?

Zunächst einmal muss man ganz klar unterscheiden: Dyskalkulie ≠ Rechenschwäche.
Niemand ist in allen Wissenbereichen gleich begabt. Es gibt Kinder, die lesen langsamer als andere. Oder Kinder, die eben nicht so schnell oder korrekt rechnen können, während dies anderen Schülern geradezu „zufliegt“. Das sind Ungleichheiten, die man relativ leicht ausgleichen kann, etwa durch regelmäßiges Üben, Nachhilfeunterricht oder besondere Lernmethoden. Rechenschwäche ist im wesentlichen eine Lernschwäche – Dyskalkulie hingegen ist eine grundlegende Störung, die ihre Ursache im Gehirn hat.

Wer unter Dyskalkulie leidet, kann nicht einfach nur „schlecht rechnen“. Es fehlt das grundlegende Verständnis, die Vorstellungskraft für Zahlen, Mengen und Räume. Wenn mich jemand fragt, beschreibe ich es gerne als eine Art Wand, auf die ich in meinem Kopf stoße, und die mich daran hindert, ein komplexeres mathematisches Problem überhaupt erst zu begreifen, von der Lösung mal ganz abgesehen. Wer an Dyskalkulie leidet, zeigt auch fast immer folgende Symptome:

  • Schwierigkeiten beim Ablesen von analogen Uhren.
  • Schwierigkeiten beim Einschätzen von Entfernungen. („In 300 Metern muss ich rechts abbiegen – wieviel sind 300 Meter?“)
  • Schwierigkeiten bei der räumlichen Orientierung, etwa beim Zurechtfinden in fremden Umgebungen oder beim Lesen von Straßenkarten.
  • Schwierigkeiten beim Lesen von Musiknoten.

steinsgateDies ist etwas, was viele Nicht-Betroffene nicht wissen und daher mit Unverständnis reagieren. Was für einen „normalen“ Menschen ganz selbstverständlich ist, wird für einen Dyskalkuliker ein großes Problem, dem man nur bedingt durch gewisse Maßnahmen beisteuern kann, weil es eben nicht unbedingt eine klar festzulegende Ursache gibt (Genetik – Psyche – Entwicklung?). Besserer Unterricht, anschaulichere Lernmethoden oder besondere Fördermaßnahmen können einem betroffenen Kind, sofern das Problem rechtzeitig erkannt wird, zwar den Lernprozess bis zu einem bestimmten Punkt erleichtern – aber es kann nicht „geheilt“ werden, so wie man es von Krankheiten kennt. Das ist einer der großen Unterschiede zur schlichten „Rechenschwäche“, und ich bin regelmäßig frustriert, dass das noch immer nicht in den meisten Köpfen angekommen zu sein scheint, obwohl es mittlerweile wirklich ausgefeilte Studien gibt.

Mittlerweile gibt es Ansätze, betroffene Kinder schon frühzeitig mit spezieller Förderung aufzufangen. Als ich noch zur Schule ging, gab es das nicht, da wurden alle gnadenlos mitgezogen, und wer eben nicht mitkam, musste auf der Strecke bleiben. Als Erwachsener kann man sich diesem Leistungszwang entziehen, aber die Dyskalkulie hört, wie schon oben aufgeführt, leider nicht beim Mathematikunterricht auf. Es gibt Situationen im Alltag, die einfach schwer fallen, ob nun an der Supermarktkasse oder beim Autofahren. Und das Schlimmste, was man einem Dyskalkuliker antun kann, ist, ihn deswegen spüren zu lassen, für wie unintelligent man ihn hält, weil er nicht dasselbe leisten kann wie man selbst. Die Minderwertigkeitskomplexe kommen ganz von alleine, glaubt mir das.

Einem Dyskalkuliker zu sagen: „Lern doch einfach rechnen, dann kannst du das auch!“, ist, als wenn man einem Depressiven sagt „Werd doch endlich fröhlich, dann hast du keine Probleme!“.  Das heißt allerdings nicht, dass man deswegen als Betroffener gleich das Handtuch werfen oder sich als hoffnungslosen Fall abstempeln sollte – Dyskalkulie entbindet einen nicht vom regelmäßigen Rechentraining, Wiederholungen und Übungen. Gewisse Rechenarten kann man durch das Auswendiglernen von Methoden und Routine durchaus hinbekommen, auch wenn man vielleicht niemals ganz verstehen wird, wieso manche Dinge so funktionieren, wie sie es eben tun. Grundlegendes Zahlenverständnis und mathematisches Vorstellungsvermögen sind wie Sprachgefühl und Farbwahrnehmungsvermögen Dinge, die schlichtweg (zumindest ab einem gewissen Punkt) nicht (mehr) erlernbar sind. Man kann nur versuchen, auszugleichen.

Ich weiß, es ist schwierig, manche Dinge als Außenstehender zu verstehen. Aber ich hoffe, vielleicht hat mein Beitrag dem einen oder anderen, der zufällig darüber stolpert, ein bisschen beim Verständnis geholfen. Dyskalkulie existiert, man sollte die Betroffenen ernst nehmen und sich bewusst machen, dass das ganz normal intelligente Menschen sind. Angesehen davon, dass Zahlen ein Rätsel für sie sind.

(Eventuelle zusammenpappende oder überlappende Buchstaben/Zeichen sind übrigens ein Hiccup meines WordPress, ich bitte um Entschuldigung. ^^;;)

 

Previous Post Next Post

No Comments

Leave a Reply

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.