Das. War der absolut schlechteste Eurovision Song Contest, an den ich mich erinnern kann. Ich will nicht bestreiten, dass es schon einige Tiefpunkte gab, aber das gestern war einfach nur grotesk. Ich mag den ESC, ich schaue ihn eigentlich jedes Jahr gerne, weil es neben einigen musikalischen Ohrfeigen auch wirklich gute Lieder und Künstler zu entdecken gibt und das Lästern über Kostüme und Länderklischees Spaß macht.
Der ESC 2010 war meiner Meinung nach ein Höhepunkt. Nicht, weil „unsere“ Lena gewonnen hat, obwohl ich mich aus Loyalität natürlich riesig gefreut habe, sondern weil die Qualität einfach großartig war. Es gab eigentlich kaum Lieder, die ich als „schlecht“ empfunden hätte, demenstprechend spannend war schließlich auch das Voting.
Das gestern…oh bitte. Es fühlte sich irgendwie so an, als hätten die Länder (ich sage aus gutem Grund nicht „europäische Länder“) 2010 schon all ihr Pulver verfeuert und diesmal nur den Bodensatz ins Rennen geschickt. Ich mochte 2-3 Beiträge im Vorfeld ganz gerne (Frankreich, Großbritannien, Dänemark mit gutem Willen), aber die haben mir dann letztlich beim Liveauftritt nur ein „Okay. Ist da irgendein Erkältungsvirus ausgebrochen?“ entlockt. Da hat selbst Peter Urbans suggestives „Woah, diese GROßARTIGE Tonqualität, die beste, die wir je hatten!!1elf“ Geseier mich nicht überzeugen können. Es war grottig. Durch die Bank. Und die einzige mit guter Livestimme (Nadine Beiler aus Österreich) hatte natürlich eines der langweiligsten Lieder des Abends.
Was mir ebenfalls sehr negativ aufgefallen ist: Es musste natürlich wieder zu 90% auf Englisch gesungen werden. Um jeden Preis. Egal, ob man der Sprache mächtig ist oder nicht. Es ist klar, dass man als junger Mensch aus Russland oder Moldavien seinen Akzent nicht komplett mal eben so abstreifen kann, das kann ja durchaus auch sehr sympathisch klingen. In Maßen. Gut ausgebildete Sänger haben, sofern sie nicht in ihrer Mutterstimme singen, spezielles Stimm- und Sprechtraining genossen, um das einzudämmen. Klappt ja auch wunderbar, hat man 2010 gesehen. Dieses Jahr…ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich zwischen den ganzen osteuropäischen und vorderasiatischen Akzenten auch nur einen geringfügigen Prozentsatz mancher Liedtexte verstanden hätte. Warum bitte denn nicht gleich in der Muttersprache singen? Warum hat man als Land mit einer eigenen Identität und einer eigenen Sprache nicht die Eier, einfach mal in der Landessprache zu singen? Warum blamiert man sich stattdessen so unsäglich?
Nun, man sieht es: Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Trotzdem habe ich tapfer durchgehalten und habe es mir verkniffen, das eine ums andere Mal einfach mal rauszugehen, um wichtigeren Dingen nachzugehen. Wie pinkeln. Oder aus dem Fenster gucken.
Ich habe durchgehalten bis…ja, bis uns Stefan „mein Ego reicht bis unter das Hallendach“ Raab Jan Delay als den größten Entertainer und Sänger Europas vorgestellt hat. WAS. ZUM. TEUFEL? Der Mann, den man nicht mal als Deutscher verstehen kann und dessen Lieder in etwa so erträglich sind wie Tinnitus, DER soll als repräsentatives Beispiel für deutsche Musik herhalten? Nunja, wenn man bedenkt, was ich im vorletzten Beitrag schon über die deutsche Hybris beim ESC gesagt habe, darf es einen eigentlich nicht wundern. Wenn wir jemanden ins Rennen schicken, der keinen Ton rausbekommt und nur mit den Hüften wackelt, dann passt dieser Jan Delay mit seinen verwursteten alten Liedern und seiner Quäknuschelstimme da eigentlich rein.
Ich hab in der Zeit jedenfalls Essen vorbereitet. Eine Viertelstunde lang war das nicht zu ertragen.
Das Voting war allerdings auch schwer zu ertragen. Warum? Nun, ich fand es bezeichnend, wie schamlos dieses Jahr mal wieder den Nachbarn und politischen Freunden Punkte zugeschoben wurden. Wir haben uns mal einen Spaß draus gemacht, zu wetten, wer welchem Land jeweils die drei Höchstpunktzahlen gibt. Wir hatten in fast allen Fällen recht, und das ist verdammt traurig. Lag es daran, dass einfach keine Lieder wirklich zu überzeugen wussten, sodass man als Wahl-Grund auf Nachbarschaftlichkeit zurückgreifen musste? Ernsthaft, ich habe das noch nie so krass erlebt! Die Buhrufe im Stadion sprachen ja auch Bände…
Gewonnen hat also Aserbaidschan, ein kleines Land in Vorderasien. Was ist falsch an diesem Satz? Oh, ja…wir befinden uns ja immernoch beim Eurovision Song Contest, nicht beim Asia-Nahost-Gesangswettbewerb.
Um es gleich zu sagen: Ich habe nichts gegen Aserbaidschan als Land oder gegen andere Staaten aus dieser Region. Der letztjährige Beitrag von Aserbaidschan war sogar echt ganz gut, aber eines der Dinge, die mir beim ESC nicht zusagen, ist die Tatsache, dass es „Eurovision“ Song Contest heißt, aber schon seit Jahren auch Länder mitmachen dürfen, die nichtmal mit viel gutem Willen zu Europa gehören. Selbst Tunesien und Algerien sind geografisch näher an Euro dran als Länder wie Aserbaidschan und Israel, und dennoch lässt man sie nicht mitmachen. Warum? Weil sie zu Afrika gehören. Genauso wie besagte Länder zu Asien zählen. Aber vielleicht ist „Vorderasien“ ja…nein, es macht keinen Sinn.
Abgesehen davon…in meinen Augen war „Running Scared“ einer der schlechtestens Beiträge des Abends. Das Lied ist nicht einmal als Studioaufnahme erträglich. Ich hätte selbst den springenden Klobürsten aus Irland oder dem Zac Efron aus Schweden den Sieg mehr gegönnt, einfach, weil sie zumindest originell und mitreißend waren, auch wenns jetzt nicht so zu hundert Prozent mein Geschmack war. Demenstprechend spricht aus mir auch nicht der Frust, dass „unsere“ Lena ihren Titel nicht verteidigen konnte.
Stichwort Lena, ich muss mich jetzt leider nochmal zum Volksverräter machen. Ich habe mich 2010 wirklich gefreut, dass sie gewonnen hat, auch wenn es objektiv nicht verdient war. Das Lied war witzig und sie irgendwie süß. Aber in dem Moment, wo einfach so verkündet wurde, dass sie ihren Titel verteidigen würde, hatte sie für mich verloren. Das ist nicht alleine ihre Schuld. Wer auch immer auf die Idee gekommen ist, dass das Lena-Fieber länger als einen Sommer anhalten würde, der hat einfach die deutsche Musiklandschaft der letzten Jahre nicht beobachtet. Zumal sie nicht mehr länger „unsere“ Lena ist, die „wir“ in den Contest gewählt haben, sondern sie uns ungefragt wieder aufgedrückt wurde. Weil man in Deutschland ja so eitel ist und meint, dass solche Aktionen auch nur ansatzweise etwas würdevolles haben. Einmal Lena mit ihrem gebrochenen Englisch, ihrem dünnen Stimmchen und den Rehaugen war süß und putzig, ein zweites Mal, entschuldigung, einfach nur peinlich. Als ich sie da auf der Bühne räkeln gesehen habe, hab ich mich echt geschämt. Nuttig rumtanzen und die Hüften schwingen lassen gleicht noch lange nicht aus, dass der Gesang unter aller Kanone war…dabei musste sie bei dem Lied nicht einmal singen, sondern nur halb sprechen, halb hauchen. Platz 10 (von 24…nicht die tolle Leistung, die einige da sehen wollen.) war da noch geschenkt.
Vielleicht bin ich auch überempfindlich, ein ich Hannoveranerin bin. Man wird hier ja seit Wochen und Monaten nicht in Ruhe gelassen mit Lena. Fahrgastfernsehen, Plakate, Radio, der verdammte Bäcker, man wurde und wird bombadiert. Ich bin jedenfalls gespannt, wann wir Lena dann im Dschungelcamp wiedersehen.
Große Enttäuschung über den diesjährigen ESC also bei mir. Den nächsten gucke ich aber natürlich auch wieder, alleine deswegen, um zu sehen, wie ein Song Contest in einem Land aussieht, das weniger Einwohner als Bayern und nur in der Hauptstadt eine nennenswerte Infrastruktur hat. Hoffentlich ist dann wenigstens die Musik wieder besser. Bis dahin werde ich mir als Trost die Lieder von 2010 anhören.
P.S.: Hat irgendjemand noch das Gefühl, dass Berlin demnächst als Hauptstadt abgelöst wird? Irgendwie kündigt sich das schon seit 2010 schleichend an… *drop*
4 Comments
Gut zu lesen, Jan Delay konnte ich mir auch nicht erklären.
Zu den Ländern. Algerien und Tunesien dürften teilnehmen, wie alle anderen Mitglieder der EBU auch. In den 80ern hat Marokko mal teilgenommen. Die Teilnahme ist freiwillig.
http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Rundfunkunion
lol, das mit jan muss ich wohl verpasst haben, obwohl ich zugegeben ein oder zwei lieder von ihm nicht so schlecht fand.
beim rest kann ich grob überall zustimmen, außer das nuttiges tanzen jetzt nicht so schlimm ist xD. habe viele texte nicht verstanden und es freut mich, das es nicht nur daran lag, das ich englische musik eh kaum versteh.
punkte austauschen war ja ab einem bestimmten längengrad schon immer ein volkssport. so hab ich das zumindest immer mitbekommen.
Und passender könnt werbung kaum laufen „warum die titelverteidigung fehlschlug und wie es jetzt mit lena weitergeht, 17:55 bei explosiv!“
man wirds sehn ob stefan sie jetzt fallen lässt oder nicht, aber an sich wird sie uns bestimmt noch ne weile begleiten
Du bist klasse. Genau meine Gedanken. Der ESC war dieses Jahr unter aller Sau. Ich kann dir in allen Punkten bedenkenlos zustimmen.
„WAS. ZUM. TEUFEL?“ Genau das hab ich mir auch gedacht 😀